Die Jagd nach dem Goldservice

von Jacques Futrelle

 

VI

DICK erhob sich und bot Mr. Randolph seine linke Hand an, der sie geflissentlich übersah und seinen Blick stattdessen auf den Reporter richtete.

»Ich hatte gehofft, Sie alleine vorzufinden«, sagte er eisig.

Hatch machte Anstalten aufzustehen.

»Bleib sitzen, Hatch«, befahl Dick. »Mr. Hatch ist ein Freund von mir, Mr. Randolph. Ich weiß nicht, was Sie zu sagen haben, aber was immer es sein mag, Sie können frei vor ihm sprechen.«

Hatch kannte diese Stimmung von Dick. Sie drückte aus, dass er kurz davor stand, jemandem an die Gurgel zu gehen. Sein Ton war gefasst, die Worte klar artikuliert, aber das Gesicht weiß – weißer, als es vorher gewesen war.

»Ich möchte nicht –«, begann Mr. Randolph.

»Sie können entweder vor Mr. Hatch sagen, was Sie wollen, oder Sie lassen es ganz bleiben«, fuhr Dick ruhig fort.

Mr. Randolph räusperte sich zweimal und winkte mit den Händen resignierend ab.

»Nun gut«, erwiderte er. »Ich bin gekommen, um die Rückgabe meines Goldservices einzufordern.«

Hatch lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn, während er heftig dessen Arme umklammerte. Diese Frage steuerte auf ein Thema zu, das er selbst hatte ansprechen wollen – aber er hatte nicht gewusst, wie. Offensichtlich fand Mr. Randolph dies einfach genug.

»Welches Goldservice?« fragte Dick.

»Die elf Stücke, die Sie, in der Verkleidung eines Einbrechers, letzten Donnerstag abend aus meinem Haus entwendet haben«, sagte Mr. Randolph. Er war ziemlich ruhig.

Dick machte einen jähen Schritt nach vorn, dann richtete er sich mit gerötetem Gesicht auf. Seine linke Hand schloss sich so fest, dass die Nägel in das Fleisch schnitten; die Finger der hilflosen rechten Hand bewegten sich nervös. Hatch konnte sehen, wie er jeden Moment über Mr. Randolph herfallen würde.

Aber wieder gewann Dick die Kontrolle über sich zurück. Die Erkenntnis setzte sich durch, dass Mr. Randolph bereits fünfzig Jahre alt war; Hatch wusste es; ob auch Mr. Randolph, war nicht klar. Dick lachte.

»Setzen Sie sich, Mr. Randolph, und erzählen Sie mir darüber«, schlug er vor.

»Es ist nicht notwendig, in die Details zu gehen«, fuhr Mr. Randolph fort, immer noch stehend. »Ich hatte nicht beabsichtigt, in Gegenwart einer dritten Person so weit zu gehen, aber Sie haben mich dazu gezwungen. Nun, wollen Sie das Goldservice zurückgeben oder nicht?«

»Würden Sie mir mitteilen, was genau Sie glauben macht, dass ich es habe?«, drängte Dick.

»Es ist so einfach wie es schlüssig ist«, sagte Mr. Randolph. »Sie erhielten eine Einladung zu dem Maskenball. Sie erschienen dort in Ihrer Einbrecherkluft und übergaben meinem Diener Ihre Einladungskarte. Sie fielen ihm besonders auf, und er las Ihren Namen auf der Karte. Er erinnerte sich genau an diesen Namen. Ich war verpflichtet, die Geschichte, wie ich sie kannte, Mr. Mallory zu erzählen. Ich erwähnte allerdings nicht Ihren Namen; mein Diener erinnerte sich an ihn – hatte ihn in der Tat an mich weitergegeben; aber ich verbat ihm, ihn vor der Polizei zu wiederholen. Er erzählte ihnen, die Einladungskarten verbrannt zu haben.«

»Oh, wie das Mallory freuen würde!«, dachte Hatch.

»Ich habe der Polizei gegenüber nicht einmal angedeutet, dass ich die leiseste Ahnung von Ihrer Identität habe«, fuhr Mr. Randolph fort, noch immer stehend. »Ich war der Meinung, dass es sich um irgendeinen Streich von Ihnen handelte und das Goldservice nach kurzer Zeit zurückgebracht werden würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es aus einem anderen Grund gestohlen haben könnten. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass meine Zurückhaltung nur aus Rücksicht auf Ihren Namen und Ihre Familie geschah. Aber nun will ich das Service zurück. Wenn es ein Streich war, um die Rolle des Einbrechers durchzuziehen, ist es nun an der Zeit, das Ganze zu beenden. Sollte Sie die Tatsache, dass die Angelegenheit nun in den Händen der Polizei liegt, so verängstigt haben, dass es Ihnen notwendig erschien, das Goldservice zum eigenen Schutz zu behalten, kann ich Sie beruhigen. Sowie ich das Service zurückerhalte, werde ich dafür sorgen, dass die Polizei die Angelegenheit fallen lässt.«

Dick hatte mit höchstem Interesse zugehört. Hatch warf ihm von Zeit zu Zeit einen Blick zu und sah nur Aufmerksamkeit – keinen Zorn.

»Und das Mädchen?«, fragte Dick zuletzt. »Kann es sein, dass Sie sie ebenso scharfsinning ausfindig gemacht haben?«

»Nein«, erwiderte Mr. Randolph offen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer sie ist. Ich schätze, außer Ihnen weiß das niemand. Ich habe kein weiteres Interesse, als das Service wiederzubekommen. Ich möchte erwähnen, dass ich gestern, am Freitag, hier vorsprach und Sie zu sehen wünschte, aber darüber informiert wurde, dass Sie verletzt worden waren; also ging ich wieder, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich etwas zu erholen.«

»Danke«, sagte Dick trocken. »Ausgesprochen aufmerksam.«

Es folgte eine lange Stille. Hatch hörte mit all den zahlreichen Ohren eines guten Reporters zu.

»Nun zum Service«, schlug Mr. Randolph wieder ungeduldig vor. »Leugnen Sie, dass Sie es haben?«

»Ja«, erwiderte Dick entschieden.

»Das hatte ich befürchtet, und glauben Sie mir, Mr. Herbert, es ist der falsche Weg«, sagte Mr. Randolph. »Ich werde Ihnen vierundzwanzig Stunden geben, Ihre Meinung zu ändern. Wenn Sie sich bis zum Ablauf dieser Frist entscheiden, das Service zurückzugeben, werde ich die Angelegenheit fallen lassen und meinen Einfluss auf die Polizei ausnutzen, dies ebenfalls zu tun. Wenn ich das Service nicht zurückerhalte, sehe ich mich gezwungen, alle Fakten an die Polizei weiterzugeben, einschließlich Ihres Namens.«

»Ist das alles?« forderte Dick plötzlich.

»Ja, das denke ich.«

»Dann verschwinden Sie von hier, bevor ich –« Dick bewegte sich vorwärts, ließ sich dann aber zurück in einen Stuhl fallen.

Mr. Randolph zog seine Handschuhe an und ging hinaus, die Türe hinter sich schließend.

Dick blieb eine lange Zeit sitzen, scheinbar ohne Hatch wahrzunehmen, seinen Kopf auf die linke Hand gestützt, während die rechte schlaff herunterhing. Hatch war versucht, seine Anteilnahme zu zeigen, denn, so seltsam es auch scheinen mag, manche Reporter hatten sogar die menschliche Eigenschaft des Mitgefühls – obwohl es Leute gibt, die das nicht glauben wollen.

»Gibt es etwas, das ich tun kann?«, fragte Hatch schließlich. »Etwas, das du mir sagen willst?«

»Nichts«, erwiderte Dick müde. »Nichts. Denke, was du willst. Wie ich schon sagte, es gibt einige Dinge, über die ich nicht sprechen kann, selbst auf die Gefahr hin – auf die Gefahr hin, mit einer Anklage vor Gericht wegen Diebstahls rechnen zu müssen. Ich kann einfach nichts sagen.«

»Aber – aber –« stotterte der Reporter.

»Nicht ein weiteres Wort«, sagte Dick bestimmt.

 

 

VII

DIE Satelliten des Chefermittlers des Metropolitan Distriktes, die das Randolph-Geheimnis in seine Einzelteile zerlegt hatten, um herauszufinden, wie es aufgebaut ist, stellten sich in einer Linie vor Detective Mallory auf – in seinem privaten Büro im Polizeipräsidium, am frühen Samstag abend. Sie wirkten nicht gerade glücklich. Der Chefermittler legte seine Füße auf den Tisch und machte ein finsteres Gesicht; das war Teil seines Jobs.

»Nun, Downey?«, fragte er.

»Ich begab mich nach Seven Oaks, um das Automobil zu holen, das der Einbrecher zurückließ, so wie Sie es angeordnet hatten«, berichtete Downey. »Dann versuchte ich den Besitzer ausfindig zu machen, oder jemanden, der das Auto kennt. Es hatte keine Nummer, daher war die Aufgabe nicht einfach, aber ich fand den Eigentümer trotzdem.«

Detective Mallory erlaubte sich, interessiert dreinzuschauen.

»Er wohnt in Merton, vier Meilen von Seven Oaks entfernt«, fuhr Downey fort. »Sein Name lautet Blake – William Blake. Sein Auto war am Donnerstag Abend um neun Uhr noch im Schuppen ungefähr hundert Fuß von seinem Haus abgestellt. Am Freitag Morgen war es verschwunden.«

»Umpf!« bemerkte Detective Mallory.

»Es steht außer Frage, dass mir Blake die Wahrheit sagte«, fuhr Downey fort. »Ich halte es für wahrscheinlich, dass der Einbrecher mit dem Zug aus der Stadt nach Merton kam, dort das Auto stahl und damit nach Seven Oaks fuhr. Mehr dürfte an der Sache nicht dran sein. Blake konnte nachweisen, dass er der Eigentümer des Wagens ist, und ich ließ ihn bei ihm zurück.«

Der Chefermittler kaute heftig auf seiner Zigarre.

»Und der andere Wagen?«, erkundigte er sich.

Einer der Insassen des Autos war verwundet worden
»Ich habe hier eine blutbefleckte Polsterung, den Rücken von einem Sitz aus dem Auto, in dem der Einbrecher und das Mädchen entkamen«, fuhr Downey mit einer Art Kommen-Sie-näher-meine-Damen-und-Herren-Stimme fort. »Ich fand das Auto heute am späten Nachmittag bei einer Garage in Pleasantville. Natürlich wussten wir, dass es Nelson Sharp, einem Gast auf dem Maskenball, gehörte. Laut dem Betreiber der Garage stand das Auto diesen Morgen davor, als er eintraf, um zu öffnen. Das Nummernschild war entfernt worden.«

Detective Mallory untersuchte die Polsterung, die Downey ihm reichte. Mehrere dunkelbraune Flecken erzählten eine eindeutige Geschichte – einer der Insassen des Autos war verwundet worden.

»Nun, das wäre bereits etwas«, kommentierte der Chefermittler. »Wir wissen nun, dass zumindest eine der Personen im Auto getroffen wurde, als Cunningham schoss, und wir können unsere Suche dementsprechend gestalten. Der Einbrecher und das Mädchen haben das Auto wahrscheinlich während der vorigen Nacht dort zurückgelassen, wo es gefunden wurde.«

»Es scheint so«, sagte Downey. »Ich glaube nicht, dass sie gewagt hätten, es lange zu behalten. Autos dieser Größe und Motorstärke sind zu leicht aufzuspüren. Ich bat Mr. Sharp zu kommen und das Auto zu identifizieren, was er auch machte. Die Flecken waren neu.«

Der Chefermittler verdaute das schweigend, während seine Satelliten sein Gesicht studierten, um eine Andeutung der Gedankengänge dieses wunderbaren Geistes zu finden.

»Sehr gut, Downey«, sagte Detective Mallory schließlich. »Nun, Cunningham?«

»Nichts«, sagte Cunningham mit Scham und Bedauern. »Nichts.«

»Konntest du überhaupt nichts auf dem Gelände finden?«

»Nichts«, wiederholte Cunningham. »Das Mädchen hat keinen Mantel in Seven Oaks zurückgelassen. Niemand von der Dienerschaft erinnert sich, sie in dem Raum gesehen zu haben, wo die Mäntel aufbewahrt wurden. Ich suchte überall und fand eine Vertiefung im Boden unter dem Fenster des Raucherzimmers, wo das Golddservice hingeworfen worden war, und es gab auch so etwas wie Fußabdrücke im Gras, aber das führte alles zu nichts.«

»Wir können keine Vertiefung oder Fußabdrücke verhaften«, sagte der Chefermittler schneidend.

Die Satelliten lachten bitter. Das war Teil der Ehrerbietung, die sie dem Chefermittler schuldeten.

»Und du, Blanton?« fragte Mr. Mallory. »Was hast du mit der Liste der Gäste angefangen?«

»Ich hatte bis jetzt keinen guten Start«, erwiderte Blanton hoffnungslos. »Da sind dreihundertundsechzig Namen auf der Liste. Es war mir möglich, ungefähr dreißig davon zu sehen. Es ist schlimmer, als ein Einwohnerverzeichnis zu erstellen. Ich werde mindestens einen Monat dafür brauchen. Randolph und seine Frau haben bereits eine große Anzahl gestrichen, von denen sie wussten, dass sie anwesend waren. Die anderen suche ich auf, so schnell ich kann.«

Die Detectives saßen unzählige Minuten in verdrossener Nachdenklichkeit da. Schließlich brach Detective Mallory das Schweigen.

»Es scheint festzustehen, dass keines der Automobile einen Hinweis geliefert hat, außer dass wir nun wissen, dass einer einer der Diebe verwundet worden ist.. Ich kann mir nun vorstellen, wie der Diebstahl von einem Mann begangen werden konnte, der so unverfroren ist wie dieser Kerl. Wir müssen nun all unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, die geladenen Gäste ausfindig zu machen und festzustellen, wo sie an diesem Abend waren. Ihr müsst die Sache rasch erledigen. Wir wissen, dass der Einbrecher eine Einladungskarte mit einem Namen darauf vorgewiesen hat.«

Die Detectives gingen ihrer Wege, und Detective Mallory geruhte, die Vertreter der Presse zu empfangen, unter ihnen Hutchinson Hatch. Hatch war besorgt. Er wusste eine ganze Menge Dinge, aber die nützten ihm nichts. Ihm war klar, dass er nichts so drucken konnte, wie es zur Zeit stand. Doch er würde der Polizei nichts erzählen, weil dadurch jeder davon erfuhr – und er konnte sich vorstellen, wie der Chefermittler alles durcheinanderbringen würde, wenn er davon Wind bekam.

»Nun, Jungs«, sagte Detective Mallory lächelnd, als die Presse hereinmarschierte, »es gibt nichts zu berichten. Ehrlich gesagt war es uns unmöglich, irgendetwas herauszufinden – zumindest nichts, das von uns weitergegeben werden kann. Natürlich haben Sie vom Fund der beiden Automobile, die in den Fall verwickelt waren, und der blutbefleckten Polsterung erfahren?«

Die Presse nickte kollektiv.

»Nun, das ist alles, was wir zur Zeit wissen. Meine Männer sind immer noch an der Arbeit, aber ich fürchte, dass das Tafelgold niemals gefunden werden wird. Es wurde möglicherweise bereits eingeschmolzen. Die Klugheit der Diebe können sie selbst an der Art und Weise, wie sie die Sache mit den Automobilen gehandhabt haben, beurteilen.«

Und doch war Hatch nicht überrascht, als spät in der Nacht das Polizeipräsidium die neueste Sensation bekanntgab. Es handelte sich um eine Bekanntmachung, basierend auf einer telefonischen Nachricht von Stuyvesant Randolph, derzufolge das Goldservice per Eilzustellung nach Seven Oaks zurückgeschickt worden war. Das stellte die Polizei vor ein unbeschreibliches Rätsel; aber die offizielle Verwirrung war nichts im Vergleich zu Hatchs Geistesverfassung. Er wusste von der Szene in Dick Herberts Zimmer und erinnerte sich an Mr. Randolphs Drohung.

»Dann hatte Dick also das Goldservice«, sagte er zu sich selbst.

 

 

VIII

GANZE Scharen von Polizeibeamten, Reportern und Zeitungsillustratoren erschienen früh am nächsten Morgen in Seven Oaks. Es war die Nacht zuvor bereits zu spät gewesen, um eine Untersuchung durchzuführen. Die Zeitungen hatten nur die Zeit gehabt, sich telefonisch die Rückkehr des Services bestätigen zu lassen. Nun brachten die Ermittler einen Wunsch einstimmig zum Ausdruck: »Zeigen!«

Hatch traf mit der Gruppe ein, die von Detective Mallory, mit Downey und Cunningham im Schlepptau, angeführt wurde. Blanton war irgendwo mit seiner kleinen Liste unterwegs, an der er vermutlich immer noch arbeitete. Mr. Randolph war noch nicht zum Frühstück heruntergekommen, als die Ermittler eintrafen, hatte aber seinem Diener die Erlaubnis gegeben, das Service, die Verpackung, in der es gekommen war, und die Schnur, mit der alles zusammengebunden war, zu zeigen.

Das Service war in einer schweren Pappschachtel eingetroffen, doppelt eingewickelt in ein steifes braunes Papier, das keine Markierungen außer der Adresse und dem »Bezahlt«-Stempel des Express-Unternehmens aufwies. Detective Mallory widmete sich zuerst der Adresse. Sie lautete::

MR. STUYVESANT RANDOLPH,
»Seven Oaks«,
via Merton.

In die linke obere Ecke waren folgende Worte gekritzelt:

Von John Smith
State Street,
Watertown.

Die Detectives Mallory, Downey und Cunningham studierten die Handschrift auf dem Papier minutiös.

»Sie stammt von einem Mann«, sagte Detective Downey.

»Sie stammt von einer Frau«, sagte Detective Cunningham.

»Sie stammt von einem Kind«, sagte Detective Mallory.

»Von wem immer sie auch stammt, sie ist verstellt«, sagte Hatch.

Er war dazu geneigt, Detective Cunningham zuzustimmen, dass es sich um die bewusst verstellte Handschrift einer Frau handelte, und in diesem Fall – Großer Gott! Da war wieder diese Vorstellung von einer Schlagzeile über sieben Spalten! Und er durfte die Flasche nicht öffnen!

Die simple Geschichte von der Ankunft des Goldservices in Seven Oaks wurde vom Diener auf packende Weise erzählt.

»Es war um acht Uhr letzte Nacht«, sagte er. »Ich stand hier in der Halle. Mr. und Mrs. Randolph waren noch zu Tisch beim Abendessen. Sie dinierten alleine. Plötzlich hörte ich das Geräusch von Wagenrrädern auf dem Straßenpflaster vor dem Haus. Ich lauschte konzentriert. Ja, es waren Wagenräder.«

Die Polizeibeamten tauschten vielsagende Blicke.

»Ich hörte den Wagen halten«, fuhr der Diener in ehrfürchtigem Ton fort. »Ich lauschte weiter. Nun kam das Geräusch von Schritten auf dem Weg und dann auf den Stufen. Ich ging langsam durch die Halle zur Vordertür. Während ich das tat, läutete die Glocke.«

»Ja, ding-dong, wissen wir. Machen Sie weiter«, unterbrach ihn Hatch ungeduldig.

»Ich öffnete die Tür«, fuhr der Diener fort. »Ein Mann stand dort mit einem Paket. Er war ein stämmiger Kerl. ›Wohnt hier ein Mr. Randolph?‹ fragte er schroff. ›Ja‹, sagte ich. ›Hier ist ein Paket für ihn‹, sagte der Mann. ›Unterschreiben Sie hier.‹ Ich nahm das Paket und unterschrieb in einem Buch, das er mir hinhielt, und – und –«

»In anderen Worten«, unterbrach ihn Hatch wieder, »Ein Kurier brachte das Paket hierher, sie unterschrieben dafür, und er ging wieder weg?«

Der Diener starrte ihn hochmütig an.

»Ja, so ist es«, sagte er kalt.

Ein paar Minuten später erschien Mr. Randolph in Person. Er blickte überrascht zu Hatch, nickte ihm kurz zu und wandte sich dann an die Polizeibeamten.

Er konnte dem Bericht, den der Diener gegeben hatte, nichts hinzufügen. Sein Service war zurückgegeben worden, vorfrankiert. Die Angelegenheit war erledigt, soweit es ihn betraf. Es schien keine Notwendigkeit für weitere Untersuchungen zu geben.

»Und was ist mit dem Schmuck, der Ihren anderen Gästen gestohlen wurde?«, verlangte Detective Mallory zu wissen.

»Natürlich, da ist ja noch das«, sagte Mr. Randolph. »Das hatte ich völlig vergessen.«

»Statt zu Ende zu sein, hat dieser Fall gerade erst begonnen«, erklärte der Detective energisch.

Mr. Randolph schien kein weiteres Interesse an der Angelegenheit zu haben. Er ging los, dann drehte er sich an der Tür noch einmal um und machte eine unauffällige Geste in Richtung Hatch, die für den Reporter einfach zu verstehen war. Als Resultat saßen Hatch und Mr. Randolph ein paar Minuten später in einem kleinen Raum gegenüber der Eingangshalle zusammen.

»Darf ich mich nach Ihrem Beruf erkundigen, Mr. Hatch?« fragte Mr. Randolph.

»Ich bin Reporter«, lautete die Antwort.

»Ein Reporter?« Mr. Randolph schien überrascht. »Natürlich, als ich Sie in Mr. Herberts Räumlichkeiten sah«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »traf ich Sie nur als seinen Freund. Sie haben gesehen, was dort geschehen ist. Nun, darf ich fragen, was Sie über diese Affäre zu veröffentlichen beabsichtigen?«

»Ich kann nichts veröffentlichen, bevor ich alles weiß oder bis die Polizei handelt«, gab er offen zu. »Ich hatte mit Dick Herbert ganz allgemein über diesen Fall gesprochen, als Sie gestern eintrafen. Ich wusste einige Dinge, oder dachte es zumindest, die die Polizei nicht einmal ahnt. Aber ich kann natürlich nur drucken, was die Polizei weiß und bekanntgibt.«

»Ich bin froh darüber – sehr froh«, sagte Mr. Randolph. »Es scheint eine Art Laune von Mr. Herberts Seite gewesen zu sein, und, ganz offen, ich kann es nicht verstehen. Natürlich gab er das Service zurück, wie ich es angenommen hatte.«

»Glauben Sie wirklich, dass er der Mann ist, der als der Einbrecher hierherkam?« fragte Hatch neugierig.

»Ich hätte nicht das getan, von dem Sie Zeuge waren, wenn ich mir nicht absolut sicher gewesen wäre«, erklärte Mr. Randolph. »Eines der Dinge, die mir besonders auffielen – ich weiß nicht, ob Sie davon wissen – war die Tatsache, dass der Einbrecher eine Furche am Kinn hatte. Sie wissen natürlich, dass Mr. Herbert so eine Furche hat. Und dann ist da die Einladungskarte mit seinem Namen. Alles zusammen macht die Sache schlüssig.«

Mr. Randolph und der Reporter schüttelten sich die Hand. Drei Stunden später hatten Presse und Polizei das Watertown-Ende des Geheimnisses aufgeklärt, nämlich wie das Eilpaket verschickt worden war. Es wurde vom Fahrer eines Zustellwagens erklärt und von gierig lauschenden Ohren aufgesogen.

»Mit einer Dollarnote darauf«
»Der Boss trug mir auf, zur No. 410 State Street zu fahren und ein Paket zu abholen«, erklärte der Fahrer. »Ich glaube, jemand hatte um den Wagen angerufen. Ich fuhr gestern Morgen hin. Es handelt sich um ein kleines Haus, ein paar hundert Fuß von der Straße entfernt, mit einer Steinmauer drum herum. Ich öffnete das Tor, ging hinein und läutete die Glocke.

Keiner antwortete auf mein erstes Läuten, und ich läutete nochmals. Immer noch antwortete niemand, und ich probierte an der Tür. Sie war abgesperrt. Ich ging um das Haus herum, um vielleicht jemanden dahinter anzutreffen, aber es war alles verschlossen. Ich vermutete, dass die Leute, die angerufen hatten, nicht mehr da waren und ging zu meinem Wagen zurück, mit der Absicht später wiederzukommen.

Gerade als ich durch das Tor hinausgehen wollte, sah ich ein hinter der Steinmauer abgestelltes Paket, von der Straße aus nicht zu sehen – mit einer Dollarnote darauf. Ich schaute es mir natürlich genauer an. Es war das Paket, das an Mr. Randolph adressiert war. Ich dachte mir, dass die Leute, die angerufen hatten, weggehen hatten müssen und das Paket zurückgelassen hatten, also nahm ich es mit. Ich stellte eine Quittung für Mr. Smith aus, den Namen in der Ecke, und heftete sie an einen Pfosten. Ich nahm das Paket und das Geld und machte mich auf den Weg. Das ist alles.«

»Sie wissen nicht, ob das Paket schon dort war, als sie hineingingen?« wurde er gefragt.

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht geschaut. Als ich zurückkam, konnte ich es nicht übersehen; also nahm ich es mit.«

Dann machten die Ermittler den »Boss« ausfindig.

»Hat die Person, die angerufen hat, Ihnen einen Namen genannt?« fragte Detective Mallory.

»Nein, ich habe nicht danach gefragt.«

»Hat ein Mann oder eine Frau gesprochen?«

»Ein Mann«, war die unverzügliche Antwort. »Er hatte eine eine tiefe, volle Stimme.«

Die Ermittler entfernten sich niedergeschlagen in Richtung No. 410 State Street. Es war nicht bewohnt; Nachforschungen ergaben, dass es schon seit Monaten unbewohnt gewesen war. Der Chefermittler knackte das Schloss, und seine Begleiter betraten mit gereckten Hälsen das Haus. Sie erwarteten, zumindest eine Diebeshöhle vorzufinden. Aber da war nichts außer Schmutz, Staub und Ruß. Dann kehrten die Ermittler in die Stadt zurück. Sie hatten nur herausgefunden, dass das Goldservice zurückgeschickt worden war, und das hatten sie schon vorher gewusst.

Hatch ging nach Hause und setzte sich mit seinem Kopf in den Händen nieder, um alles aufzuzählen, was er noch nicht über die Affäre wusste. Und das war überraschend viel.

»Entweder besuchte Dick Herbert den Ball oder nicht«, sagte er zu sich selbst. »Irgendetwas ist ihm an diesem Abend passiert. Entweder stahl er das Goldservice oder nicht, und jeder Umstand deutet darauf hin, dass er es getan hat – was er natürlich nicht getan hat. Dorothy Meredith war entweder auf dem Ball oder nicht. Die Aussage des Dienstmädchens zeigt, dass sie es war, aber niemand hat sie erkannt – was darauf hindeutet, dass sie es nicht war. Entweder flüchtete sie mit jemandem in einem Automobil oder nicht. Wie auch immer, mit ihr ist irgendetwas passiert, weil sie vermisst wird. Das Goldservice wurde gestohlen, und das Goldservice ist wieder zurück. Das weiß ich, Gott sei Dank! Und nun, obwohl ich mehr über diese Affäre weiß als jede andere Person, weiß ich im Grunde gar nichts

 

 

Das Mädchen und das Goldservice

 

I

Tief über das Lenkrad gebeugt, ließ der Dieb das Automobil mit unglaublicher Geschwindigkeit von Seven Oaks weg die Straße entlang rasen. Beim ersten Schuss kauerte er sich tiefer in den Sitz, das Mädchen mit sich zerrend; beim zweiten zuckte er etwas und biss seine Zähne fest zusammen. Die Schweinwerfer des Autos schnitten sich einen leuchtenden Weg durch die Schatten, und Bäume huschten wie eine feste Wand vorbei. Die Rufe der Verfolger blieben zurück, während sich das Mädchen noch immer an seinen Arm klammerte.

»Lass das«, befahl er plötzlich, »wir bauen sonst noch einen Unfall!«

»Aber, Dick, die haben auf uns geschossen!« protestierte sie entrüstet.

Der Dieb warf ihr einen kurzen Blick zu, und als er seine Augen wieder auf die Straße richtete, zuckte ein Lächeln um seine zusammengepressten Mundwinkel.

»Ja, ich hatte auch diesen Eindruck«, stimmte er grimmig zu.

»Aber, die hätten uns töten können«, fuhr das Mädchen fort.

»Es ist durchaus möglich, dass sie diese absurde Idee hatten, als sie auf uns schossen«, antwortete der Dieb. »Ich vermute mal, dass du noch nie zuvor in einer solchen Lage warst?«

»Natürlich war ich das nie!« rief das Mädchen entschieden aus.

Das Dröhnen und Rattern ihres Autos übertönte andere Geräusche – Geräusche, die von hinten kamen – aber von Zeit zu Zeit blickte sich der Dieb um, und von Zeit zu Zeit schob er den Geschwindigkeits-Regler eine Kerbe weiter. Die Geschwindigkeit war bereits beängstigend, und das Mädchen an seiner Seite wurde bei jeder noch so kleinen Unebenheit der Straße auf- und abgeschleudert, während sie sich verzweifelt an ihren Sitz klammerte.

»Ist es wirklich notwendig, so schrecklich schnell zu fahren?« presste sie schließlich hervor.

Der Wind peitsche in ihr Gesicht, ihre Maske flatterte in alle Richtungen; der mit Bändern geschmückte Sombrero suchte sich noch verzweifelt an eine sich lösende Strähne ihres rötlichen Haares zu klammern. Sie griff nach dem Hut und konnte ihn gerade noch festhalten, aber ihr Haar, eine Masse aus Gold, fiel über ihre Schultern herab und wurde nach hinten geweht.

»Oh«, plapperte sie, »mein Hut hält nicht.«

Der Dieb warf wieder einen kurzen Blick nach hinten, dann trat er mit dem Fuß gegen den Geschwindigkeits-Regler und das Auto sprang mit einem plötzlichen Satz nach vorn. Der Regler war nun in seine letzte Kerbe eingerastet, und dieses Auto hatte immerhin an Rennen in Ormond Beach teilgenommen.

»Oh, Liebling!« rief das Mädchen erneut aus. »Kannst du nicht ein bisschen langsamer fahren?«

»Schau nach hinten«, wies der Dieb sie knapp an.

Sie blickte sich um und stieß einen leisen Schrei aus. Aus einer Entfernung von wenigen hundert Yards starrten sie zwei riesige Augen an, als ein anderes Auto in ihrer Verfolgung dahinraste, und hinter diesem bedrohlich glitzernden Paar war noch ein weiteres zu erkennen.

»Die verfolgen uns, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete der Dieb grimmig, »aber wenn diese Reifen halten, haben sie keine Chance. Eine Panne würde ...« Er beendete den Satz nicht. Da war ein unheilverkündender Ton in seiner Stimme, aber das Mädchen blickte immer noch zurück und beachtete ihn nicht. In ihrer überreizten Einbildung schien es so, als ob die riesigen Augen langsam näher kamen, und wieder klammerte sie sich an den Arm des Diebes.

»Lass das, sage ich«, befahl er wieder.

»Aber, Dick, sie dürfen uns nicht schnappen – sie dürfen es nicht!«

»Tun Sie nicht.«

»Aber wenn sie es sollten –«

»Tun sie nicht«, wiederholte er.

»Es wäre wirklich schrecklich!«

»Schlimmer als das.«

Eine Zeitlang betrachtete ihn das Mädchen schweigend, wie er sich über das Lenkrad beugte, und ein einzigartiges Gefühl der Sicherheit überkam sie. Dann schwang das Auto gefährlich schwankend um eine Kurve, und die funkelnden Augen waren verschwunden. Sie atmete etwas auf.

»Ich wusste nicht, dass du so gut mit einem Auto umgehen kannst«, sagte sie bewundernd.

»Ich kann so einiges, von dem die Leute keine Ahnung haben«, antwortete er. »Sind die Lichter immer noch da?«

»Nein, Gott sei Dank!«

Der Dieb bewegte einen Hebel mit seiner linken Hand und das Dröhnen der Maschine ließ nach. Nach einem Moment begann das Auto an Geschwindigkeit zu verlieren. Das Mädchen bemerkte es und sah ihn mit neuer Besorgnis an.

»Oh, wir halten!«, rief sie aus.

»Ich weiß.«

Sie fuhren noch ein paar hundert Fuß weiter, dann betätigte der Dieb die Bremse und nach einigem Holpern kam das Auto zum Stehen. Er sprang heraus und rannte nach hinten. Als das Mädchen ihn unsicher beobachtete, ertönte ein plötzliches Krachen und das Auto schaukelte ein wenig.

»Was ist?«, fragte sie erschrocken.

»Ich habe das Rücklicht zerschlagen«, antwortete er. »Man kann es sehen, und es macht eine Verfolgung zu einfach.«

Er zertrat die Splitter auf der Straße, dann trat er wieder an die Seite des Wagens, um einzusteigen, dabei seine linke Hand dem Mädchen entgegenstreckend.

»Schnell, gib mir deine Hand«, bat er.

Verwundert folgte sie seiner Bitte, woraufhin er sich selbst mit spürbarer Anstrengung auf den Nachbarsitz zog. Das Auto vibrierte etwas, dann fuhr es wieder an, zuerst langsam, dann immer mehr an Geschwindigkeit zulegend. Das Mädchen starrte ihren Begleiter neugierig, ja besorgt, an.

»Bist du verletzt?« fragte sie schließlich.

Für den Augenblick verzichtete er auf eine Antwort, die gab er erst, als das Auto wieder seine frühere Geschwindigkeit gewonnen hatte und geradeaus durch die Nacht raste.

»Mein rechter Arm ist unbrauchbar«, erklärte er kurz, dann: »Ich bekam die zweite Kugel in die Schulter.«

»Oh, Dick, Dick«, rief sie aus, »und du hast nichts gesagt! Du brauchst Hilfe!«

Ein pötzlicher Anfall von Mitgefühl ließ sie ihre Hände wieder auf seinen linken Arm legen. Er schüttelte sie grob, fast schon zornig, ab.

»Lass das!« befahl er zum dritten Mal. »Wir verunglücken sonst noch.«

Erschrocken über die Heftigkeit in seinem Tonfall wich sie stumm zurück, und das Auto fegte weiter. Wie schon zuvor blickte der Dieb von Zeit zu Zeit zurück, aber die Lichter erschienen nicht wieder. Lange Zeit war das Mädchen still und schließlich warf er einen kurzen Blick auf sie.

»Entschuldige bitte«, sagte er zerknirscht. »Ich meinte es nicht so, aber – aber es ist wahr.«

»Es ist wirklich nicht von Bedeutung«, antwortete sie kalt. »Es tut mir leid – wirklich leid.«

»Danke«, erwiderte er.

»Vielleicht wäre es das Beste, das Auto anzuhalten und mich hinauszulassen«, fuhr sie nach einem Moment fort.

Der Dieb hörte es entweder nicht oder wollte es nicht bemerken. Die schwachen Lichter eines Dorfes tauchten vor ihnen auf, dann verschwanden sie wieder; ein einsamer Hund bellte neben der Straße. Die strahlenden Lichter ihres Autos enthüllten vor ihnen das Gewirr einer Kreuzung, eine ideale Möglichkeit, die Verfolger abzuschütteln. Das Auto schwenkte in einem weiten Bogen herum, und die Aufmerksamkeit des Diebes konzentrierte sich ganz auf die Straße vor ihnen.

»Schmerzt dich der Arm?«, fragte das Mädchen schließlich mit scheuer Stimme.

»Nein«, antwortete er kurzangebunden. »Ich fühle nur eine Art Taubheit. Aber ich fürchte, ich verliere Blut.«

»Sollten wir nicht besser zu diesem Ort zurückfahren und einen Doktor aufsuchen?«

»Nicht an diesem Abend«, antwortete er unverzüglich in einem Tonfall, den sie nicht einordnen konnte. »Ich werde bald irgendwo anhalten und die Wunde abbinden.«

Schließlich erreichte das Auto, als das Dorf schon weit zurücklag, eine dunkle kleine Straße, die sich ziellos durch einen Wald dahinzuziehen schien, und der Dieb verlangsamte das Tempo, um in sie einzukurven. Einmal im Schutz der überhängenden Äste fuhren sie noch für ungefähr hundert Yards weiter, dann kam der Wagen zum Stillstand.

»Wir müssen es hier tun«, erklärte er.

Er sprang aus dem Auto, stolperte und stürzte. Augenblicklich war das Mädchen an seiner Seite. Das vom Auto wiederspiegelnde Licht zeigte ihr unscharf, dass er sich aufzurichten suchte, zeigte ihr unterhalb der Maske die Blässe seines Gesichts.

»Ich fürchte, es steht ziemlich schlecht«, sagte er schwach. Dann verlor er das Bewusstsein.

Das Mädchen beugte sich nieder, hob seinen Kopf in ihren Schoß und küsste ihn mehrmals fieberhaft..

»Dick, Dick!« schluchzte sie, und Tränen fielen auf die finstere Maske des Diebes.

 

 

II

Als der Dieb wieder sein Bewusstsein erlangte, war er dem Himmel so nahe, wie es ein Mann kaum zu erwarten wagen kann. Er war angenehm – sehr angenehm – in eine herrliche, wohlige Mattigkeit eingehüllt, die ihm verbot, die Augen der Wirklichkeit zu öffnen. Die Hand einer Frau lag zärtlich auf seiner Stirn, und undeutlich nahm er wahr, dass eine andere Hand mollig warm in seiner eigenen lag. Er lag ruhig da und suchte sich zu erinnern, bevor er seine Augen öffnen konnte. Jemand atmete leise neben ihm, und er lauschte darauf, als ob es sich um Musik handeln würde.

Allmählich drängte sich die Notwendigkeit zum Handeln in sein Bewusstsein – es kam ihm allerdings nicht in den Sinn, was er tun und warum er dies tun sollte. Er hob eine Hand an sein Gesicht und berührte die Maske, die auf seine Stirn zurückgezogen war. Dann erinnerte er sich an den Ball, den Schuss, die Jagd, das Versteck im Wald. Er öffnete mit einem Ruck seine Augen. Vollkommene Finsternis umgab ihn – für einen Moment war er sich nicht sicher, ob es sich um die Finsternis der Blindheit oder der Nacht handelte.

»Dick, bist du wach?« fragte das Mädchen sanft. Er erkannte die Stimme und war beruhigt.

»Ja«, antwortete er müde.

Er schloss wieder seine Augen und ein fremdes, zartes Parfüm schien ihn einzuhüllen. Er wartete. Warme Lippen berührten die seinen, ihn seltsam erregend, und das Mädchen legte eine weiche Wange an seine.

»Wir sind sehr närrisch gewesen, Dick«, sagte sie, süß rügend, nach einem Moment. »Es war alles meine Schuld, dich solcher Gefahr aussetzen zu lassen, aber ich hätte niemals gedacht, dass so etwas passieren könnte. Ich werde mir niemals vergeben, weil –«

   
»Es müssen mehrere Tausend sein, allein an Eigengewicht«
»Aber –«, begann er protestierend.

»Kein Wort mehr darüber,« fuhr sie eilig fort. »Wir müssen bald weiter. Wie fühlst du dich?«

»Ich bin in Ordnung – oder werde es in einer Minute sein«, antwortete er und machte Anstalten, aufzustehen. »Wo ist das Auto?«

»Direkt hier. Ich löschte die Lichter und schaltete den Motor ab, aus Angst, dass diese schrecklichen Menschen, die hinter uns her waren, ihn hören könnten.«

»Braves Mädchen!«

»Als du hinaussprangst und ohnmächtig wurdest, sprang ich auch raus. Ich fürchte, ich war nicht sehr geschickt, aber ich schaffte es, deinen Arm zu verbinden. Ich nahm mein Taschentuch und presste es, nachdem ich deinen Mantel zerrissen hatte, gegen die Wunde. Dann verband ich alles. Es hat die Blutung gestillt, aber, Dick, Liebling, du brauchst so schnell wie möglich ärztliche Betreuung.«

Der Dieb bewegte vorsichtig seine Schulter und zuckte zusammen.

»Nachdem ich das erledigt hatte«, fuhr das Mädchen fort, »machte ich es dir hier auf einem Polster aus dem Wagen bequem.«

»Gutes Mädchen!« sagte er wieder.

»Dann setzte ich mich nieder, um zu warten, bis es dir besser ging. Ich hatte kein Riechsalz oder ähnliches dabei, und ich traute mich nicht, dich zu verlassen, deshalb – deshalb wartete ich nur«, endete sie mit einem kleinen matten Seufzer.

»Wie lange war ich bewusstlos?« forschte er.

»Ich weiß nicht, vielleicht eine halbe Stunde.«

»Mit dem Beutel ist alles in Ordnung, nehme ich an?«

»Der Beutel?«

»Der Beutel mit dem Zeug – der, den ich in das Auto warf, als wir losfuhren?«

»Oh, ja, glaube ich jedenfalls! Wirklich, ich habe nicht an ihn gedacht.«

»Nicht an ihn gedacht?«, wiederholte der Dieb, und da war eine Spur von Erstaunen in seiner Stimme merkbar. »Bei George, du bist ein Wunder!«, fügte er hinzu.

Er wollte aufstehen, fiel aber wieder schwach zurück.

»Sag, Mädchen,« bat er, »sieh nach, ob du den Beutel im Auto findest und nimm ihn heraus. Werfen wir mal einen Blick darauf.«

»Wo ist er?«

»Irgendwo vorne. Ich fühlte ihn dort zu meinen Füßen, als ich heraussprang.«

Es folgte das Rascheln von Röcken in der Dunkelheit, und nach einem Moment ertönte ein schwaches gedämpftes Klirren, als ob schweres Metall dumpf gegeneinander schägt

»Meine Güte!« rief das Mädchen aus. »Ist das vielleicht schwer. Was ist in dem Beutel?«

»Was in dem Beutel ist?« wiederholte der Dieb, und er lachte leise. »Fast ein Vermögen, das es wert ist, dafür durchlöchert zu werden. Lass mich mal sehen.«

In der Dunkelheit nahm er den Beutel aus ihren Händen und wühlte einen Moment in ihm. Sie hörte erneut das metallische Geräusch, und dann wurden mehrere schwere Objekte über den Boden verstreut.

»Ungefähr vierzehn Pfund puren Goldes«, kommentierte der Dieb. »Bei George, ich habe nur noch ein Streichholz, aber wir wollen sehen, wie das aussieht.«

Das Streichholz wurde angerissen, flackerte einen Moment und flammte dann hell auf. Das stehende Mädchen blickte auf den Dieb hinunter, der neben einem Haufen aus goldenen Tellern kniete. Sie starrte gebannt auf die glitzernde Menge, und ihre Augen öffneten sich weit.

»Aber, Dick, was ist das?« fragte sie.

»Das ist Randolph's Goldservice«, antwortete der Dieb selbstgefällig. »Ich weiß nicht, wieviel es genau wert ist, aber es müssen mehrere Tausend sein, allein an Eigengewicht.«

»Was tust du damit?«

»Was ich damit tue?« wiederholte der Dieb. Er wollte gerade zu ihr aufsehen, als das Streichholz seine Finger verbrannte und er es fallen lassen musste. »Das ist vielleicht eine dumme Frage.«

»Aber wie kam es in deinen Besitz?« beharrte das Mädchen.

»Ich erwarb es auf eine ganz einfache Art und Weise – ich steckte es in einen Beutel und nahm es mit. Das und dich am selben Abend –« Er streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie war nicht da. Er lachte ein wenig, als er sich umwandte und die elf Teller nacheinander aufhob und wieder in den Beutel legte.

»Neun – zehn – elf«, zählte er. »Und wieviel Glück hattest du?«

»Dick Herbert, erkläre mir bitte, was du mit diesem Goldservice vor hast?« Da war ein gebieterischer Befehlston in der Stimme zu hören.

»Oh, ich habe es, um es in Ordnung bringen zu lassen!« antwortete er leichthin.

»In Ordnung bringen zu lassen? Auf diese Weise und zu dieser Nachtzeit?«

»Sicher«, und er lachte freundlich.

»Du meinst, du – du – du hast es gestohlen?« Die Worte kamen nur mit Mühe heraus.

»Nun, ich bezeichne es nicht so«, bemerkte der Dieb. »Das ist ein hartes Wort. Aber ja, es ist in meinem Besitz, es wurde mir nicht geschenkt, und ich habe es auch nicht gekauft! Du kannst deine eigenen Schlüsse daraus ziehen.«

Der Beutel lag neben ihm und seine linke Hand streichelte ihn sanft, ja liebevoll. Für eine lange Zeit herrschte Stille.

»Wieviel Glück hattest du?« fragte er wieder.

Anklagende Entrüstung war aus der Stimme des Mädchens herauszuhören.

»Du – du hast es gestohlen

»Nun, wenn du es wirklich vorziehst, es so auszudrücken – ja.«

Der Dieb starrte in der Dunkelheit unverwandt in die Richtung, aus der die Stimme kam, aber die Nacht war so dicht, dass nicht das Geringste von dem Mädchen erkennbar war. Er lachte wieder.

»Es hat sich wohl um Glück gehandelt, dass ich mich gerade zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen entschieden hatte, es zu nehmen«, fuhr er spöttisch fort – »Glück für dich, meine ich. Wenn ich nicht dort gewesen wäre, hätte man dich geschnappt.«

Wieder kam ein überraschtes Keuchen.

»Was ist los?« forderte der Dieb scharf, nach einer weiteren Stille. »Warum sagst du nicht irgendwas?«

Er starrte weiter in die Dunkelheit, ohne etwas zu erkennen. Der Beutel mit dem Tafelgold bewegte sich leicht unter seiner Hand. Er öffnete kurz seine Finger, um sie noch fester zu schließen. Das war ein Fehler. Der Beutel wurde weggezogen; seine Hand ergriff – Luft.

»Hör mit diesem Spielchen auf!« befahl er zorning. »Wo bist du?«

Er kämpfte sich auf seine Füße. Seine einzige Antwort war das Knacken eines Zweiges zu seiner Rechten. Er startete in diese Richtung und prallte mit dem Automobil zusammen. Er wandte sich um, immer noch blind herumtastend, und umarmte einen Baum mit wenig würdevoller Leidenschaft. Zu seiner Linken nahm er ein weiteres leises Geräusch wahr und rannte dorthin. Wieder stieß er gegen ein Hindernis. Er fing an, bestimmte Worte von sich zu geben, ziemlich ausdrucksstarke Worte. Der Schatz war weg – in den Schatten verschwunden. Das Mädchen war weg. Er rief, aber es kam keine Antwort. Er zog grimmig seinen Revolver, als ob er abdrücken wollte; dann überlegte er es sich noch einmal und schleuderte ihn auf den Boden.

»Und ich dachte ich habe Nerven!« erklärte er. Es war ein Kompliment.

 

 

(Fortsetzung folgt)