Die Jagd nach dem Goldservice

von Jacques Futrelle

 

III

Mit überwältigender Schönheit ging die Sonne im Osten auf – kein unübliches Ereignis – und blickte ohne zu Blinzeln auf eine Landstraße. Da gab es die üblichen zwitschernden Vögel, taubedeckten Bäume und sich wiegenden Wildblumen; außerdem Staub, so tief wie eine Schuhspitze. Die morgendliche Luft bewegte sich träge und raschelnde Blätter ließen lange, sich windende Schatten über den Boden huschen.

Ohne jeglichen Enthusiasmus oder poetische Begeisterung betrachtete das alles ein Mädchen – ein hübsches Mädchen – ein sehr hübsches Mädchen. Sie saß auf einem Stein neben der gelblichen Straße, ein Bild der Erschöpfung. Ein Beutel aus rauhem Sackleinen, anscheinend schwer, aber nicht sehr groß, lag neben ihr im Staub. Ihr Haar war von einem goldfarbenen Braun, und einige rebellische, unstete Strähnen hingen ihr teilnahmslos ins Gesicht. Ein bändergeschmückter Sombrero der in ihrem Schoß lag, verlieh ihr zusammen mt einem kurzen Rock, schweren Handschuhen und Stiefeln und einem Gürtel mit Messer und Revolver einen gewissen Hauch heruntergekommenen Draufgängertums.

Ein Rotkehlchen, das unverschämt auf einem Baumstumpf über der Straße saß, musterte sie mit Muße. Sie starrte zurück auf Signor Rotbrust, und für diese Anerkennung trällerte er ein kleines Lied.

»Ich hätte gute Lust zu weinen!« rief das Mädchen plötzlich aus.

Betroffen und erschrocken flog das Rotkehlchen davon. Ein Schleier legte sich über die blauen Augen des Mädchens und verweilte dort einen Moment, dann biss es ihre weißen Zähne fest zusammen und der Schimmer dieser starken Gemütsregung ging vorbei.

»Oh«, seufzte sie wieder, »ich bin müde und hungrig und ich weiß genau, dass ich niemals irgendwohin kommen werde!«

Aber trotz dieser ausdrücklichen Überzeugung erhob und reckte sie sich, als ob sie ihre Reise wiederaufnehmen wolle, dabei drehte sie sich um, um auf den Beutel niederzustarren. Er stellte ein unansehnliches Symbol der geplatzten Hoffnungen, der Perfidie des Mannes, zerstörter Ziele – und nur der Himmel weiß, von was noch – dar.

»Ich hätte gute Lust, dich hier zurückzulassen«, bemerkte sie gehässig zu dem Beutel. »Vielleicht sollte ich ihn verstecken.« Sie überlegte sich die Frage. »Nein, das reicht nicht aus. Ich muss ihn mit mir nehmen – und – und – Oh, Dick! Dick! Was in aller Welt war nur los mit dir!«

Damit setzte sie sich wieder nieder und weinte. Das Rotkehlchen kletterte zurück, um nachzusehen und versteckte sich unauffällig hinter einem Blatt. Von dieser vorteilhaften Position aus beobachtete es, wie sie wieder aufstand und durch den Staub stapfte, mit dem Beutel über einer Schulter baumelnd. Endlich – es gibt ein endlich für alle Dinge – tauchte hinter einer Gruppe von Bäumen ein kleines Haus auf. Das Mädchen schaute mit zweifelnden Augen. Es war wirklich ein Haus. Wirklich! Ein winziger Rauchkringel schwebte über dem Kamin.

»Fein, Gott sei Dank, irgendwie bin ich doch irgendwo gelandet«, erklärte sie mit einem ersten Anzeichen von Enthusiasmus. »Ich kann einen Becher Kaffee oder etwas bekommen.«

Sie legte die nächsten fünfzig Yards mit neuem Schwung und einem festeren Griff um den wertvollen Beutel zurück. Dann – hielt sie auf einmal an.

»Du lieber Himmel!« und verblüffte Falten legten ihre Stirn plötzlich in Falten. »Wenn ich dort mit einer Pistole und einem Messer hineingehe, werden sie denken, ich bin ein Brigant – oder – oder ein Dieb, und ich glaube, das bin ich ja auch«, fügte sie hinzu, als sie stillstand und den Beutel auf den Boden legte. »Zumindest habe ich Diebesgut in meinem Besitz. Nun, was soll ich sagen, wenn sie Fragen stellen? Wer bin ich? Sie würden mir nicht glauben, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählen würde. Kurzer Rock, Stiefel und Handschuhe: Ich weiß! Ich bin eine Radfahrerin. Mein Rad hatte eine Panne, und –«

Woraufhin sie behutsam den Revolver aus ihrem Gürtel entfernte und ins Unterholz warf – nicht gerade in die Richtung, die sie eigentlich beabsichtigt hatte – und das Messer folgte, um ihm Gesellschaft zu leisten. Als sie sich von diesen unheimlichen Dingen befreit hatte, richtete sie ihren Hut, strich das rebellische Haar zurück, zog an ihrem Rock und spazierte tapfer zu dem kleinen Haus hinauf.

Ein Engel lebte dort – ein Engel in einem schwindelerregend geblümten Morgenmantel und von mürrischem Äußeren. Sie lauschte einem schnell zusammengebastelten und völlig widersprüchlichen Märchen von einem Fahrradunfall, die mit der Bitte um eine Tasse Kaffee endete. Schweigend bereitete sie einen zu. Nachdem der Topf fröhlich vor sich hinblubberte, Eier auf den Ofen gegeben und Kekse in ihn hineingeschoben worden waren, um gebacken zu werden, setzte sich der Engel am Tisch gegenüber dem Mädchen nieder.

»Büchervertreter?«, fragte sie.

»Oh, nein!«, antwortete das Mächen.

»Nähmaschinen?«

»Nein.«

Es folgte eine Pause, als der Engel eine Tasse Kaffee eingoss.

»Nach Maß arbeiten, vermute ich?«

»Nein,« antwortete das Mädchen unsicher.

»Was verkaufst du dann?«

»Nichts, ich – ich –«, sie brach ab.

»Was hast du denn in dem Beutel?«, ließ der Engel nicht locker.

»Irgendein – irgendein – nur irgendein Zeug,« stammelte das Mädchen, und ihr Gesicht lief dunkelrot an.

»Was für Zeug?«

Das Mädchen blickte in die neugierigen Augen und wurde vom Gefühl der eigenen Hilflosigkeit überwältig. Tränen begannen zu fließen, und ein perlweißer Tropfen rann ihre perfekt geformte Nase hinunter und platschte in den Kaffee. Nun brachen die letzten Dämme. Sie lehnte sich plötzlich nach vorn und heulte.

»Bitte, bitte stellen Sie keine Fragen!« flehte sie. »Ich bin eine arme, närrische, irregeführte, desillusionierte Frau!«

»Ja, Miss«, sagte der Engel. Sie nahm die Eier, kam dann herüber und legte einen freundlichen Arm um die Schultern des Mädchens. »Nun, nun!«, sagte sie beruhigend. »Nimm es nicht so tragisch! Drink ein bisschen Kaffee, iss einen Bissen, und du wirst dich sofort besser fühlen!«

»Seit gestern habe ich nichts geschlafen und gegessen, und ich bin Meilen und Meilen und Meilen gewandert«, kam es fieberhaft aus dem Mädchen heraus. »Und alles, weil – weil –«

Sie brach plötzlich ab.

»Iss etwas!« befahl der Engel.

Das Mädchen gehorchte. Der Kaffee war schwach und matschig – und wundervoll; die Kekse waren gelb und klumpig – und herrlich; die Eier waren – Eier. Der Engel setzte sich wieder gegenüber nieder und beobachtete das Mädchen beim Essen.

»Schlägt dich dein Ehemann?«, verlangte sie auf einmal zu wissen.

Das Mädchen errötete und verschluckte sich fast an einem Keks.

»Nein«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich bin nicht verheiratet.«

»Nun, es gibt in dieser Welt keine wirklich großen Schwierigkeiten, bis man einen Mann heiratet, der einen schlägt«, sagte der Engel entschieden. Es war das letzte Wort.

Das Mädchen antwortete nicht, und diese Zurückhaltung benötigte, angesichts der Tatsache, dass sie ausreichend Beispiele bei Hand hatte, um über diese Ansicht streiten zu können, einen gewissen Heroismus. Wahrscheinlich wird sie nie die entsprechende Würdigung dafür erhalten. Sie beendete schweigend das Frühstück und lehnte sich schließlich mit etwas zurückgewonnenem Frieden in ihrer Seele zurück.

»Hast du es eilig?«, fragte der Engel.

»Nein. Ich habe keinen Platz, wohin ich gehen kann. Welches ist das nächste Dorf oder Stadt?«

»Watertown, aber du bleibst besser noch hier und rastest ein wenig. Du siehst völlig fertig aus«.

»Oh, vielen Dank,« sagte das Mädchen dankbar. »Aber es wären so viele Mühen für –«

Der Engel hob den sackleinenen Beutel auf, schüttelte ihn untersuchend, dann ging sie zu den niederen, nach oben führenden Stufen.

»Bitte, bitte!« rief das Mädchen plötzlich aus. »Ich – ich – geben Sie ihn mir bitte wieder!«

Der Engel gab den Beutel wortlos zurück. Das Mädchen nahm ihn zitternd, dann ließ sie ihn plötzlich fallen, umarmte den Engel und drückte auf seine unempfänglichen Lippen einen Kuss, für den so manchern Mann seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht hätte. Der Engel wischte sich seinen Mund mit dem Handrücken ab und ging die Stufen weiter hinauf, das Mädchen folgte.

Mit nassen Augen lag das Mädchen, längere Zeit im Nachdenken versunken, auf einem sauberen, kleinen Bett. Erniedrigung, Erschöpfung, die Gemeinheit des männlichen Geschlechts, Desillusionierung, und die Freundlichkeit einer vollkommen Fremden, all das beschäftigte sie, bis sie einschlief. Dann wurde sie von einem Polizisten mit Autoscheinwerfern anstelle von Augen verfolgt, und da war eine Parade von hartgekochten Eiern und gelber, klumpiger Kekse.

Als sie erwachte, war der Raum völlig dunkel. Sie saß auf, zunächst noch etwas verwirrt, dann erinnerte sie sich. Nach einem Moment hörte sie von unten die Stimme des Engels. Sie plätscherte nörgelnd dahin, dann hörte sie die barsche Stimme eines Mannes.

»Diamantringe?«

Das Mädchen saß im Bett auf und lauschte konzentriert. Unfreiwillig verschränkte sie ihre Hände. Ihre Ringe waren noch da. Die Stimme des Engels war wieder für einen Augenblick zu hören.

»Etwas in einem Beutel?«, fragte der Mann.

Wieder sprach der Engel.

Furcht packte das Mädchen, ihre Vorstellungskraft spielte verrückt, und sie erhob sich zitternd vom Bett. Lautlos tastete sie durch den dunklen Raum. Jeder Schatten verlieh ihr neue Ängste. Dann kam von unten das Geräusch von schweren Fußtritten. Sie lauschte angstvoll. Sie kamen näher, dann verstummten sie. Ein Streichholz wurde angezündet und Schritte erklangen auf den Stufen.

Nach einem Moment ertönte ein Klopfen an der Tür, eine Pause, dann ein weiteres Klopfen. Schließlich wurde das Tor aufgestoßen und eine riesige Figur – die Figur eines Mannes – erschien, mit einer Hand eine Kerze schützend. Er starrte angestrengt im Raum herum.

»Da ist niemand heroben«, rief er barsch die Stufen hinunter.

Es erklang das Geräusch heraufeilender Füße und der Engel trat ein, sein Gesicht durch das flackernde Kerzenlicht verzerrt .

»Du lieber Gott!«, rief sie aus.

»Ging weg ohne auch nur Danke zu sagen«, schimpfte der Mann. Er durchquerte den Raum und schloss ein Fenster. »Du hast nicht mehr Verstand als ein Huhn«, sagte er zum Engel. »Lässt jeden herein, der hier vorbeikommt.«

 

IV

Wenn Willie's kleiner Bruder nicht Bauchschmerzen gehabt hätte, wäre diese Geschichte auf anderen verschlungenen Wegen zu einem unterschiedlichen Ergebnis gekommen. Aber glücklicherweise hatte er welche, und so geschah es, dass präzise um 8:47 Uhr an einem warmen Abend Willie wie verrückt durch eine Seitenstraße von Watertown sauste, unterwegs zum Drugstore, als er sich plötzlich einem Mädchen gegenüberfand – einem hübschen Mädchen – einem sehr hübschen Mädchen. Sie trug einen Beutel, der bei jedem Schritt ein wenig klirrte.

»Oh, Junge!« rief sie.

»Was?« und Willie hielt so plötzlich an, dass er sein Gleichgewicht in Gefahrt brachte, obwohl er es wohl nicht so ausgedrückt hätte.

»Lieber kleiner Junge«, sagte das Mädchen beruhigend und tätschelte sein zersaustes Haar, während er vor Verlegenheit an seinem Daumen lutschte. »Ich bin sehr müde. Ich habe eine lange Wanderung hinter mir. Kannst du mir bitte sagen, wo eine Dame ohne Begleitung hier in der Nähe ein Zimmer für die Nacht bekommen kann?«

»Was?« kam es hinter Willie's Daumen hervor.

Müde wiederholte das Mädchen alles und als sie am Ende angelangt war, kicherte Willie. Das war der ärgerliche Höhepunkt einer langen Serie von ärgerlichen Vorfällen, und der Griff des Mädchens um den Beutel verstärkte sich ein wenig. Willie hat nie erfahren, wie nahe er dem Schicksal gekommen war, mit vierzehn Pfund soliden Goldes zu Tode geprügelt zu werden.

»Nun?« forschte das Mädchen schließlich.

»Weiß nicht«, sagte Willie. »Jimmy hat Bauchweh«, fügte er zusammenhanglos hinzu.

»Kennst du nicht ein Hotel oder eine Pension in der Nähe?«, betonte das Mädchen nachdrücklich.

»Weiß nicht«, erwiderte Willie. »Ich bin auf dem Weg zum Drugstore für ein Paar O'Gorrick.«

Das Mädchen biss auf ihre Lippe, und diese Handlung rettete Willie wahrscheinlich vor den schrecklichen Konsequenzen seiner unabsichtlichen Leichtfertigkeit, da das Mädchen nach einem Moment laut auflachte.

»Wo ist der Drugstore?« fragte sie.

»Gerade um die Ecke. Ich gehe dorthin.«

»Ich werde auch mitgehen, wenn du nichts dagegen hast«, sagte das Mädchen, drehte sich um und spazierte neben ihm her. Vielleicht wäre der Verkäufer in der Lage, die Situation zu erhellen.

»Ich hab mal einen Penny verschluckt«, vertraute Willie ihr plötzlich an.

»Wirklich schlimm!« kommentierte das Mädchen.

»Unh unnh«, verneinte Willie entschieden. »Weil, als ich weinte, gab mir Pa einen Vierteldollar.« Er war einen Augenblick still, dann: »Wenn ich den verschluckt hätte, schätz ich, hätt er mir einen Doller gegeben. Mann!«

Das ist der Optimismus, der die Welt sich drehen lässt. Diese Philosophie nahm Besitz vom Mädchen und heiterte es auf. Als sie den Drugstore betrat, ging sie schon mit einem leichteren Schritt, und da war die Spur eines Lächelns um ihren hübschen Mund erkennbar. Der Verkäufer, die einzige anwesende Person, kam nach vorn.

»Ich möchte ein Paar O'Gorrick«, verkündete Willie.

Das Mädchen lächelte, und der Verkäufer ging, dem Jungen keinerlei Aufmerksamkeit schenkend, auf sie zu.

»Sie bedienen besser zuerst ihn«, schlug sie vor. »Es scheint dringend zu sein.«

Der Verkäufer drehte sich zu Willie um.

»Paregoric?«, erkundigte er sich. »Wie viel?«

»Umgefähr ein Viertel, schätz ich«, erwiderte der Junge. »Ist das genug?«

»Mehr als genug«, bemerkte der Verkäufer. Er verschwand hinter der Rezeptwand und kehrte nach einem Moment mit einem kleinen Fläschchen zurück. Der Junge nahm es, überreichte eine Münze und ging pfeifend hinaus. Das Mädchen blickte mit ein wenig Sehnsucht in ihren Augen hinter ihm her.

»Nun, Madam?« erkundigte sich der Verkäufer weltmännisch.

»Ich brauche nur eine kleine Information«, erwiderte sie. »Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs« – sie schluckte ein bisschen – »als ich eine Panne hatte. Ich werde wohl hier in der Stadt die Nacht verbringen müssen. Können Sie mir ein ruhiges Hotel oder eine Pension, wo ich bleiben kann, empfehlen?«

»Sicherlich«, erwiderte der Verkäufer flott. »Das Stratford befindet sich nur einen Block weiter, diese Straße hinauf. Erklären sie nur die Umstände, und ich bin sicher, es geht alles in Ordnung.«

Das Mädchen lächelte ihn wieder an und ging fröhlich ihres Weges. Dieser kleine Junge war eine Aufheiterung für ihre hängenden Lebensgeister gewesen. Sie fand das Stratford ohne Schwierigkeit und erzählte die übliche Fahrradlüge, mit einem ganz natürlichen Zuwachs an Detail und einem brennenden Gefühl von Scham. Sie trug sich als Elizabeth Carlton ein und wurde zu einem bescheidenen kleinen Zimmer geführt.

Ihre erste Handlung bestand darin, das Goldservice im Wandschrank zu verstecken; ihre zweite darin, es wieder herauszunehmen und unter dem Bett zu verbergen. Dann setzte sie sich auf eine Couch, um nachzudenken. Für eine Stunde oder mehr ließ sie sich die Situation mit all ihren scheußlichen Details durch den Kopf gehen und plante ihre desolate, trostlose Zukunft – Frauen lieben es, eine trostlose Zukunft zu planen – dann fiel ihr Blick durch Zufall auf eine Nachmittagszeitung, die, mit schreienden Überschriften, den Diebstahl des Randolph'schen Goldservices verkündete. Sie las sie. Sie berichtete mit erstaunlichen Details von Dingen, die in Verbindung mit dem Diebstahl statt- bzw. nicht stattgefunden hatten.

Das in all seinem Grauen begreifend, erhob sie sich schnell und versteckte den Beutel zwischen der Matratze und den Sprungfedern. Bald darauf löschte sie das Licht und legte sich mit einem kleinen Erschaudern ins Bett. Sie kuschelte ihren Kopf unter die Decke. Sie schlief nicht sehr viel – sie dachte immer noch nach – aber als sie am nächsten Morgen aufstand, stand ihr Entschluss fest.

Zuerst packte sie die elf goldenen Teller in eine schwere Schachtel aus Pappe, dann umwickelte sie diese sicher mit braunem Papier und einer Schnur und adressierte sie: »Stuyvesant Randolph, Seven Oaks, via Merton.« Sie hatte bereits früher Eilpakete verschickt und wusste, wie zu verfahren war. Aus diesem Grund notierte sie, als es nötig wurde, einen Namen in die obere linke Ecke schreiben zu müssen – den Absender – in einer kühnen, entschlossenen Handschrift: »John Smith, Watertown«.

Nachdem sie alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, nahm sie das Paket unter einen Arm, suchte so auszusehen, als ob es nicht schwer wäre, und schlenderte nach unten – nach außen hin voller Selbstbewusstsein und nach innen voller Befürchtungen. Sie trat dem Angestellten freundlich gegenüber, während ein sonderbar besorgtes Lächen ihre Lippen kräuselte.

»Meine Rechnung, bitte?«, bat sie.

»Zwei Dollar, Madam«, antwortete er galant.

»Ich habe leider kein Geld mit mir«, erklärte sie charmant. »Natürlich hatte ich vor, auf meinem Rad zurückzufahren, aber nachdem ich eine Panne hatte, sind sie vielleicht willens, das hier zu nehmen, bis ich in die Stadt zurückkehre und einen Scheck schicken kann?«

Sie zog einen Diamantring von einem aristokratischen Finger und bot ihm den Angestellten an. Er errötete schlagartig, und sie tadelte ihn dafür mit einem kalten Blick.

»Es ist eigentlich unvorschriftsmäßig«, erklärte er, »aber, selbstverständlich, unter diesen Umständen geht es in Ordnung. Und es ist für uns nicht notwendig, den Ring zu behalten, wenn sie uns ihre Stadtadresse geben wollen.«

»Ich ziehe es aber vor, dass Sie ihn behalten«, bestand sie bestimmt, »da ich sie außerdem bitten muss, mir den Fahrpreis zurück in die Stadt vorzustrecken – ein paar Dollar? Natürlich geht das auch in Ordnung?«

Es verging eine halbe Stunde, bis der Angestellte wieder zu vollem Bewusstsein kam. Er hatte dem Mädchen zwei ganze Dollar gegeben und hielt ihren Ring fest in einer Hand umklammert. Sie war verschwunden. Sie hätte genausogut das Hotel mitnehmen können, soweit es den Angestellten betroffen hätte.

Einmal außerhalb des Hotels eilte das Mädchen rasch vorwärts.

»Gott sei Dank, das ist vorbei«, rief sie aus.

Sie wanderte ein paar Blocks weiter. Schließlich wurde ihr Blick von einem »Zu Verkaufen«-Schild an einem kleinen Haus angezogen – es war Nr. 410 State Street. Sie trat durch ein Tor in einer festen Steinmauer und schlenderte zum Haus hinauf. Hier spazierte sie eine Zeitlang herum, nebenbei das »Zu Verkaufen«-Schild abreissend. Dann kam sie wieder den Weg zur Straße herunter. Gerade noch innerhalb der Steinmauer ließ sie ihr Eilpaket zurück, nachdem sie den Namen der Straße mit einem Bleistift daraufgekritzelt hatte. Eine Dollarnote lag obenauf. Sie eilte hinaus und einen Block oder mehr entlang bis zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft.

»Würden Sie bitte einen Expressdienst anrufen, damit sie einen Wagen zu Nr. 410 State Street für ein Paket schicken?« bat sie süß den Kaufmann.

»Sicher, Ma'am«, erwidete er mit Eifer.

Sie wartete, bis er erledigt hatte, um was sie ihn gebeten hatte, dann suchte sie ein Restaurant für eine Tasse Kaffee auf. Sie blieb dort längere Zeit sitzen, bis sie wieder ging und einen größeren Teil des Tages darauf verwandte, die State Street auf und ab zu spazieren. Schließlich fuhr ein Paketwagen vor, der Fahrer ging hinein und kehrte nach einer kleinen Weile mit dem Paket zurück.

»Und, Gott sei Dank, bin ich das Zeug los!« seufzte das Mädchen. »Nun kann ich wieder nach Hause.«

* * * * *

Spät an diesem Abend, einem Samstag, kehrte Miss Dollie Meredith in das Heim der Greytons zurück und wurde an den mütterlichen Busen von Mrs. Greyton gedrückt, wo sie sich hemmungslos ausweinte.

 

V

Es war am späten Nachmittag des Sonntags. Hutchinson Hatch lief nicht leichtfüßig die Stufen des Greyton-Hauses hinauf und warf eine Zigarre weg, als er klingelte. Er stieg die Stufen fast widerwilligen, schleppenden Fußes hinauf – mehr ein Zeichen für seine geistige Verfassung als von körperlicher Müdigkeit. Er warf auch keine Zigarre weg, als er klingelte, weil er nicht rauchte – aber er klingelte. Das Dienstmädchen, das er bereits bei seinem früheren Besuch angetroffen hatte, öffnete die Tür.

»Ist Mrs. Greyton anwesend?« fragte er mit einem Nicken des Wiedererkennens.

»Nein, Sir.«

»Mr. Greyton?«

»Nein, Sir.«

»Ist Mr. Meredith aus Baltimore angekommen?«

»Ja, Sir. Letzte Mitternacht.«

»Ah! Ist er da?«

»Nein, Sir.«

Die Unzufriedenheit des Reporters zeigte sich deutlich in seinem Gesicht.

»Ich glaube kaum, dass Sie etwas Neues von Miss Meredith gehört haben?«, wagte er eher hoffnungslos zu fragen.

»Sie ist oben, Sir.«

Jeder, der einmal auf einen Reißnagel getreten war, weiß genau, was Hatch in diesem Augenblick fühlte. Er wartete nicht darauf, hereingebeten zu werden – er trat ein. Einmal innen nahm er mit zitternden Fingern eine einfache Visitenkarte aus seinem Notizbuch und reichte sie dem wartenden Dienstmädchen.

»Wann ist sie zurückgekommen?«, fragte er.

»Letzte Nacht, um neun, Sir.«

»Wo ist sie gewesen?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

»Überbringen Sie ihr freundlicherweise meine Karte und erklären Sie ihr, dass es unbedingt nötig ist, dass ich sie für ein paar Minuten sehe«, fuhr der Reporter fort. »Machen Sie ihr die absolute Notwendigkeit dessen klar. Übrigens, ich glaube, Sie wissen, von wo ich komme, hm?«

»Polizeipräsidium, ja, Sir.«

Da waren Anzeichen von Trotz wie auch von Entschlossenheit um ihren hübschen Mund
Hatch suchte wie ein Detektiv auszusehen, aber der Schimmer von Intelligenz in seinem Gesicht verriet ihn fast.

»Sie können das gegenüber Miss Meredith andeuten«, wies er das Dienstmädchen seelenruhig an.

Das Dienstmädchen verschwand. Hatch ging in den Empfangssalon, setzte sich nieder und sagte mehrere Male »Wow!«

»Das Goldservice kehrte letzte Nacht per Eilzustellung zu Randolph zurück«, grübelte er, »und sie kehrte ebenfalls letzte Nacht zurück. Nun, was bedeutet das?«

Nach ungefähr einer Minute erschien das Dienstmädchen wieder, um mitzuteilen, dass Miss Meredith ihn empfangen werde. Hatch nahm die Nachricht mit ernster Miene entgegen und winkte ihr geheimnisvoll, während er in seinem Notizbuch nach einer Banknote suchte.

»Haben Sie irgendeine Idee, wo Miss Meredith gewesen war?«

»Nein, Sir. Sie erzählte es nicht einmal Mrs. Greyton oder ihrem Vater.«

»Wie sah sie aus?«

»Sie schien sehr müde zu sein, Sir, und hungrig. Sie trug immer noch das Kostüm des Maskenballs.«

Die Banknote wechselte den Besitzer, und Hatch wurde wieder allein gelassen. Nach längerem Warten ertönte das Rascheln von Röcken, ein leichter Schritt, und Miss Dollie Meredith trat ein.

Es ist wahr, dass sie nervös und bleich wirkte, aber es war auch ein Anzeichen von Trotz und von Entschlossenheit um ihren hübschen Mund erkennbar. Hatch starrte sie einen Augenblick lang mit offener Bewunderung an, bevor er sich mit Mühe dem Eigentlichen zuwandte.

»Ich nehme an, Miss Meredith«, sagte er würdevoll, »dass das Diesntmädchen Sie über meine Identität informiert hat?«

»Ja«, erwiderte Dollie leise. »Sie sagte, Sie wären ein Detektiv.«

»Ah!« rief der Reporter bedeutsam aus, »dann verstehen wir einander. Nun, Miss Meredith, wollen sie mir bitte erzählen, wo genau Sie gewesen sind?«

»Nein.«

Die Antwort erfolgte so prompt und energisch, dass Hatch ein wenig unsicher wurde. Er räusperte sich und fing nochmals von vorn an.

»Wollen Sie mich dann im Interesse der Justiz darüber informieren, wo Sie sich am Abend des Balles bei Randolph aufgehalten haben?« Hinter seinen Worten lag eine unheilverkündende Drohung, von der Hatch hoffte, sie würde sie glauben.

»Das will ich nicht.«

»Warum sind Sie verschwunden?«

»Das werde ich Ihnen nicht erzählen.«

Hatch schwieg, um sich neu auf die Situation einzustellen. Er änderte seine Vorgehensweise. Als er wieder zu reden begann, hatte sein Tonfall seinen offiziellen Klang verloren – er sprach wie ein Mensch.

»Darf ich fragen, ob sie zufällig Richard Herbert kennen?«

Die Blässe im Gesicht des Mädchens wurde durch einen plötzlichen Schwall von Farbe ersetzt.

»Das werde ich Ihnen nicht sagen«, antwortete sie.

»Und wenn ich sage, dass Mr. Herbert ein Freund von mir ist?«

»Nun, Sie sollten sich was schämen!«

Zwei beunruhigend starrende blaue Augen brachten ihn aus der Fassung; zwei scharlachrote Lippen zogen sich in Verachtung eines Mannes, der sich einer solchen Freundschaft brüstete, fest zusammen; zwei Wangen brannten vor Entrüstung, dass er es gewagt hatte, diesen Namen zu erwähnen. Hatch wankte für einen Moment, dann räusperte er sich und nahm einen frischen Anlauf.

»Wollen Sie leugnen, dass Sie Richard Herbert am Abend des Maskenballs sahen?«

»Das werde ich nicht.«

»Wollen Sie zugeben, dass Sie ihn sahen?«

»Das werde ich nicht.«

»Wissen Sie, dass er verwundet wurde?«

»Sicher.«

Nun, Hatch hatte bisher immer die vage Theorie vertreten, dass es der einfachste Weg, ein Geheimnis bekannt zu machen, war, es einer Frau anzuvertrauen. An diesem Punkt nahm er aber seinen Zug zurück, warf das alte Blatt hin und verlangte neue Karten.

»Miss Meredith«, sagte er besänftigend, »wollen Sie zugeben oder leugnen, dass sie jemals vom Raub bei Randolph gehört haben.«

»Das will ich nicht«, begann sie, dann aber: »Natürlich weiß ich davon.«

»Sie wissen also, dass ein Mann und eine Frau dieses Diebstahls beschuldigt und dafür auch gesucht werden?«

»Ja, das weiß ich.«

»Sie geben zu, dass Sie wissen, dass der Mann mit einer Diebeskluft und die Frau mit einem Western-Kostüm bekleidet waren?«

»Die Zeitungen sagen das, ja«, erwiderte sie süß.

»Sie wissen auch, dass Richard Herbert diesen Ball in einer Diebeskluft besuchte und dass Sie als Western-Girl verkleidet dorthin gegangen sind?« Der Ton des Reporters war nun streng professionell.

Dollie starrte in die gestrenge Miene ihres Verhörers und ihr Mut schwand. Die Farbe verschwand aus ihrem Gesicht und sie begann heftig zu weinen.

»Entschuldigen Sie«, protestierte Hatch. »Entschuldigen Sie. Ich meinte es nicht so, aber –«

Er brach hilflos ab und starrte diese wundervolle Frau mit dem roten Haar an. Von allen Dingen in der Welt waren Tränen wirklich das Beunruhigendste.

»Entschuldigen Sie,« wiederholte er verlegen.

Dollie sah mit tränenbefleckten, flehenden Augen auf, dann erhob sie sich und legte beide Hände auf Hatch's Arm. Es war eine mitleiderregende, hilflose Geste; Hatch erschauderte vor schierem Entzücken.

»Ich weiß nicht, wie Sie das herausgefunden haben«, sagte sie ängstlich, »aber, wenn Sie gekommen sind, um mich zu verhaften, bin ich bereit, mit Ihnen zu gehen.«

»Sie verhaften?« stieß der Reporter hervor.

»Sicher. Ich werde eingesperrt werden. Das ist es doch, was sie machen, oder?« fragte sie unschuldig.

Der Reporter starrte nur.

»Ich würde sie nicht für eine Million Dollar festnehmen«, stammelte er in schrecklicher Verwirrung. »Es war wirklich nicht das. Es war –«

Und fünf Minuten später fand sich Hutchinson Hatch auf dem Gehsteig wieder, ziellos auf und ab wandernd.

 

VI

Dick Herbert lag müde ausgestreckt auf einer Couch in seinem Zimmer, die Hände auf seine Augen gepresst. Er hatte gerade die Sonntagszeitungen gelesen, die über die geheimnisvolle Rückkehr des Randolph'schen Goldservices berichteten, und natürlich hatte er Kopfschmerzen bekommen. Irgendwo in einem entfernten Winkel seines Gehirns war ein Feuerwerk an der Arbeit; eine Art geistiges Feuerrad verspritzte unsinnige Ideen und Vorstellungen von unsinnigen Ideen. Der späte Nachmittag ging über in Dämmerung, die Dämmerung in Dunkelheit, die Dunkelheit in Finsternis, und er lag immer noch regungslos da.

Nach einer Weile hörte er von unten das Klingeln der Glocke, und Blair trat vorsichtigen Schrittes ein:

»Entschuldigen Sie, Sir, schlafen Sie?«

»Wer ist es, Blair?«

»Mr. Hatch, Sir.«

»Lass ihn heraufkommen.«

Dick erhob sich, schaltete die elektrischen Lichter ein, und stand blinzelnd in ihrem plötzlichen Schein. Als Hatch eintrat, standen sie sich für einen Moment schweigend gegenüber. Da war etwas in den Augen des Reporters, das Dick unermesslich interessierte, da war etwas in Dick's Augen, das Hatch vergeblich zu verstehen suchte. Dick milderte eine gewisse vage Spannung, indem er seine linke Hand ausstreckte. Hatch schüttelte sie freundlich.

»Nun?« erkundigte sich Dick.

Hatch ließ sich in einen Sessel fallen und spielte mit seinem Hut.

»Hast du schon die Neuigkeiten gehört?« fragte er.

»Die Rückkehr des Goldservices, ja«, und Dick fuhr sich mit der Hand über seine fiebernde Stirn. »Es macht mich richtig schwindlig.«

»Und hast du auch etwas von Miss Meredith gehört?«

»Nein. Warum?«

»Sie kehrte letzte Nacht zu den Greytons zurück.«

»Kehrte zu den –« und Dick sprang jäh auf. »Nun, es gibt keinen Grund, warum sie das nicht sollte«, fügte er hinzu. »Weißt du zufällig, wo sie gewesen war?«

Der Reporter schüttelte seinen Kopf.

»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte er müde, »außer –« Er legte eine Pause ein.

Dick schritt mehrere Male im Raum auf und ab, eine Hand gegen seine Stirn gedrückt. Plötzlich drehte er sich zu seinem Besucher um.

»Außer was?« verlangte er zu wissen.

»Außer dass mich Miss Meredith durch Handlungen und Worte überzeugt hat, dass sie entweder eine Hand beim Verschwinden des Randolph'schen Goldservices im Spiel hatte, oder zumindest weiß, wer der Grund seines Verschwindens war.«

Dick warf ihm einen wilden Blick zu.

»Du weißt natürlich, dass sie das Goldservice nicht genommen hat?«, forderte er.

»Sicher«, erwiderte der Reporter. »Das ist ja, was das alles noch erstaunlicher macht. Ich habe mit ihr an diesem Nachmittag gesprochen, und als ich fertig war, schien sie zu glauben, ich sei gekommen, um sie festzunehmen, und sie wollte ins Gefängnis gehen. Ich bin fast ohnmächtig geworden.«

Dick starrte ihn ungläubig an, dann nahm er sein nervöses Auf- und Abschreiten wieder auf. Plötzlich hielt er an.

»Erwähnte Sie meinen Namen?«

»Ich erwähnte ihn. Sie wollte nicht einmal zugeben, dass sie dich kennt.«

Es folgte eine kleine Pause.

»Ich gebe ihr keine Schuld«, bemerkte Dick rätselhaft. »Sie muss mich für einen Schuft halten.«

Eine weitere Pause.

»Nun, was soll das Ganze überhaupt noch?«, fuhr Dick schließlich fort. »Das Goldservice wurde zurückgeschickt, und deshalb ist die Angelegenheit zu Ende.«

»Nun, schau mal, Dick«, sagte Hatch. »Ich möchte jetzt etwas sagen, und drehe bitte nicht durch, bevor ich fertig bin. Ich weiß eine ganze Menge über diese Affäre – Einzelheiten, die die Polizei nie herausfinden wird. Ich habe aus offensichtlichen Gründen auch nichts davon gedruckt.«

Dick sah ihn ängstlich an.

»Fahr fort«, drängte er.

»Ich könnte manches, was ich herausgefunden habe, drucken lassen«, fuhr der Reporter fort; »und damit einen Haftbefehl für dich in Zusammenhang mit der Goldservice-Affäre heraufbeschwören, und dich aufgrund deiner eigenen Aussagen, ergänzt durch jene von Miss Meredith, festnehmen und verurteilen lassen. Aber, erinnere dich bitte, weder dein noch ihr Name wurden bis jetzt erwähnt.«

Dick nahm es ruhig auf, er starrte nur.

»Glaubst du, dass ich das Goldservice gestohlen habe?«, fragte er.

»Natürlich tue ich das nicht«, erwiderte Hatch, »aber ich kann beweisen, dass du es getan hast; es zur Zufriedenheit jeder Jury in der Welt beweisen, und kein Leugnen deinerseits würde irgendeinen Einfluss haben.«

»Nun?«, fragte Dick nach einem Moment.

»Weiters kann ich, aufgrund von Informationen, die sich in meinem Besitz befinden, einen Haftbefehl für Miss Meredith herbeiführen, beweisen, dass sie in dem Automobil war, und sie als deine Komplizin überführen. Das ist ja wohl eine dumme Situation, oder?«

»Aber, Mann, du kannst doch nicht im Ernst glauben, dass sie irgendetwas damit zu tun hatte! Sie – sie macht so etwas nicht.«

»Ich könnte einen Eid darauf ablegen dass sie nichts damit zu tun hatte, aber es bleibt sich alles gleich, ich kann beweisen, dass sie es getan hat,« erwiderte Hatch. »Nun, worauf ich hinaus will, ist, dass die Polizei, wenn sie zufällig herausfindet, was ich weiß, euch hinter Gitter bringen würde – euch beide.«

»Nun, du bist ziemlich offen, alter Knabe, und ich weiß das zu schätzen«, sagte Dick warm. »Aber was können wir tun?«

»Es geziemt sich für uns – Miss Meredith, dich und mich selbst – alle wahren Hintergründe in diesem Fall herauszufinden, bevor du geschnappt wirst«, sagte der Reporter mit klarer Sicht der Situation. »Ich schlage vor, dass wir drei uns zusammensetzen und uns einmal zur Abwechslung die Wahrheit erzählen, die ganze Wahrheit, und dann gemeinsam sehen, was zu unternehmen ist.«

»Wenn ich dir die Wahrheit erzählen würde«, sagte Dick objektiv, »würde es ewige Schande über Miss Meredith bringen, und ich wäre ein Mistkerl, wenn ich es tun würde; wenn sie dir die Wahrheit erzählen würde, würde sie mich fraglos wegen Diebstahls ins Gefängnis bringen.«

»Aber hier –« protestierte Hatch.

»Nur eine Minute!« Dick verschwand in einen anderen Raum, den Reporter zurücklassend, der auf dem, was er hatte, herumkaute. Nach einer kleinen Weile kam er, für die Straße gekleidet, wieder. »Nun, Hatch«, sagte er, »ich versuche, zu Miss Meredith durchzukommen, aber ich glaube nicht, dass sie mich sehen will. Wenn sie es doch wollen sollte, könnte ich in der Lage sein, verschiedene Dinge zu erklären, was diese Affäre zumindest für dich klar machen.würde. Wenn ich sie nicht sehen sollte – nebenbei, ist ihr Vater aus Baltimore eingetroffen?«

»Ja.«

»Gut!« rief Dick aus. »Dann werde ich ihn auch treffen – und mache einen Showdown daraus; wenn alles vorüber ist, lass ich dich wissen, was passiert ist.«

Hatch kehrte in sein Büro zurück und drohte damit, den Bürojungen in den Papierkorb zu stecken.

Genau in diesem Moment erhielt Mr. Meredith im Haus der Greytons eine Karte, auf der der Name »Mr. Richard Hamilton Herbert« zu finden war. Nachdem er ihn gelesen hatte, schnaubte er vor Entrüstung und ging in den Empfangssalon. Dick erhob sich, um ihn zu grüßen und bot ihm eine Hand, die prompt verweigert wurde.

Auf der der Name »Mr. Richard Hamilton Herbert« aufschien
»Ich möchte Sie gerne fragen, Mr. Meredith«, begann Dick mit einer gewissen stählernen Kälte in seinem Verhalten, »warum sie dagegen sind, dass ich Ihrer Tochtor Dorothy den Hof mache?«

»Das wissen Sie ganz genau!«, wütete der alte Mann.

»Es ist also wegen der Schwierigkeiten, die ich in Harvard mit Harry, ihrem Sohn, hatte. Nun gut, aber ist das alles? Soll das für immer so bleiben?«

»Sie haben damals bewiesen, dass Sie kein Gentleman sind«, erklärte der alte Mann wütend. »Sie sind ein Schnösel, Sir!«

»Wenn Sie nicht zufällig der Vater des Mädchens wären, in das ich verliebt bin, würde ich Ihnen eins auf die Nase geben«, erwiderte Dick fast schon heiter. »Wo ist Ihr Sohn im Augenblick? Gibt es keine Möglichkeit, dass ich mich in Ihren Augen rehabitilieren kann?«

»Nein!«, donnerte Mr. Meredith. »Eine Entschuldigung wäre nur das Geständnis für Ihre Unehrenhaftigkeit!«

Dick drohte fast daran zu ersticken, aber er schaffte es, seine Stimme leise zu halten.

»Weiß Ihre Tochter irgendetwas von dieser Affäre?«

»Natürlich nicht.«

»Wo ist Ihr Sohn?«

»Das ist nicht Ihre Sache, Sir!«

»Ich glaube nicht, dass Sie irgendeinen Zweifel an meiner Zuneigung zu Ihrer Tochter hegen?«

»Ich glaube, Sie bewundern sie«, schnappte der alte Mann. »Sie können nichts dagegen tun, schätze ich. Niemand kann das«, fügte er naiv hinzu.

»Und ich schätze, Sie wissen, dass Sie mich trotz Ihres Widerstandes liebt?«, fuhr der junge Mann fort.

»Pah! Pah!«

»Und dass Sie mit Ihrem starrsinnigen Einwand gegen mich ihr Herz brechen?«

»Sie – Sie –«, ereiferte sich Mr. Meredith.

Dick blieb immer noch ruhig.

»Darf ich Miss Meredith für ein paar Minuten sehen?,« fuhr er fort.

»Sie will Sie nicht sehen, Sir«, wütete das zornige Elternteil. »Sie teilte mir letzte Nacht mit, dass sie niemals zustimmen würde, Sie wiederzusehen.«

»Wollen Sie mir Ihre Erlaubnis geben, Sie hier und jetzt zu sehen, wenn sie zustimmen würde?«, beharrte Dick unverwandt.

»Sie will Sie nicht sehen, sage ich.«

»Darf ich eine Karte zu ihr schicken?«

»Sie will Sie nicht sehen, Sir«, wiederholte Mr. Meredith stur.

Dick trat in die Halle hinaus und winkte dem Dienstmädchen.

»Bitte bringen Sie meine Karte zu Miss Meredith«, wies er sie an.

Das Dienstmädchen nahm das weiße Viereck mit einem leichten Anheben ihrer Augenbrauen und stieg die Treppe hinauf. Miss Meredith empfing es gelangweilt, las es, dann richtete sie sich empört auf.

»Dick Herbert!« rief sie ungläubig aus. »Wie kann er es wagen, hierher zu kommen? Das ist das unverfrorenste Ding, von dem ich je gehört habe! Natürlich will ich ihn unter keinen Umständen wiedersehen!« Sie erhob sich und starrte trotzig das gelassene Dienstmädchen an. »Teile Mr. Herbert mit«, sagte sie energisch, »teile ihm mit – dass ich in Kürze nach unten kommen werde.«

 

VII

Mr. Meredith war zornig aus dem Raum gestampft, und so war Dick Herbert allein, als Dollie voll königlicher Entrüstung hereinrauschte. Die Neigung ihres rötlichen Kopfes strahlte Mißachtung aus, und eine zutiefst bedrückende Frostigkeit lag in ihren blauen Augen. Ihre Lippen bildeten eine scharlachrote Linie, und Nase und Kinn waren zu einem Wie-können-Sie-es-wagen-Sir-Ausdruck hochgezogen. Dick sprang bei ihrem Erscheinen schnell auf.

»Dollie!«, rief er voll gespannter Ungeduld aus.

»Mr. Herbert«, erwiderte sie kalt. Sie setzte sich am äußersten Rand eines Sessels, der sich danach sehnte, sie umarmen zu können, züchtig nieder. »Was gibt es, bitte?«

Dick gehörte zu einem außerordentlich verwegenen Schlag von Männern, aber ihr ganzes Verhalten ließ ihn in plötzlicher Steifheit erstarren. Er betrachtete sie einen Augenblick lang in Ruhe.

»Ich bin gekommen, um zu erklären, warum –«

Miss Dollie Meredith rümpfte die Nase.

»Ich bin gekommen, um erklären«, fuhr er fort, »warum ich dich nicht auf dem Randolph'schen Maskenball getroffen habe, wie wir geplant hatten.«

»Warum du mich nicht getroffen hast«, erkundigte sich Dollie kalt, mit einer leicht überraschten Bewegung ihrer gebogenen Augenbrauen. »Warum du mich nicht getroffen hast?«, wiederholte sie.

»Ich werde dich bitten müssen, zu glauben, dass das unter den Umständen absolut unmöglich gewesen war«, setzte Dick fort, es vorziehend, die eigenartige Betonung ihrer Worte nicht zu bemerken. »Früh an diesem Abend ist etwas geschehen, das – das mir keine Wahl in der Sache ließ. Ich kann deine Entrüstung und Verletztheit darüber, dass ich nicht erschienen bin, verstehen, und es war mir auch nicht möglich, dich an diesem Abend oder seither zu erreichen. Die Neuigkeit von deiner Rückkehr letzte Nacht erreichte mich erst vor einer Stunde. Ich wusste nur, dass du verschwunden warst.«

Dollie's blaue Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen teilten sich ein wenig vor Überraschung. Für einen Moment saß sie so da, auf den jungen Mann starrend, dann sank sie mit einem kleinen Keuchen zurück in ihren Sessel.

»Darf ich mich«, fragte sie, nachdem sie ihren Atem wiedergefunden hatte, »nach dem Grund dieser – dieser Lächerlichkeit erkundigen?«

»Dollie, Liebes, ich bin vollkommen ernst«, versicherte ihr Dick aufrichtig. »Ich versuche nur, dir das Ganze verständlich zu machen, das ist alles!«

»Warum du mich nicht getroffen hast?« wiederholte Dollie wieder. »Aber du hast mich getroffen! Und darum geht es ja!«

Was auch immer Dick an Überraschung oder einem anderen Gefühl empfunden haben mag, wurde auf bewundernswerte Weise unterdrückt.

»Ich dachte schon, dass da vielleicht irgendwo ein Fehler steckt«, sagte er schließlich. »Nun, Dollie, hör mir zu. Nein, warte eine Minute, bitte! Ich bin nicht zum Randolph'schen Ball gegangen. Du bist. Du bist von dem Ball in einem Automobil durchgebrannt, wie du und ich es geplant hatten, aber nicht mit mir. Du gingst mit irgeneinem anderen Mann – dem Mann, der wirklich das Goldservice stahl.«

Dollie öffnete den Mund in der Absicht, etwas auszurufen, schloss ihn dann aber wieder plötzlich.

»Nur noch einen Moment, bitte«, bat Dick. »Du hast mit irgendeinem anderen Mann unter dem Eindruck, dass es sich um mich handelt, gesprochen. Aus einem Grund, der jetzt noch nicht klar ist, machte er bei deinen Plänen mit. Deshalb bist du mit ihm geflohen – in dem Automobil, in dem sich auch das Goldservice befand. Was danach geschah, kann ich nicht einmal vermuten. Ich weiß nur, dass du die geheimnisvolle Frau warst, die mit dem Dieb verschwand.«

Dollie atmete tief ein und erstickte fast an ihren Gefühlen. Eine scharlachrote Flamme überzog ihr Gesicht und der Glanz der blauen Augen war erbarmungslos.

»Mr. Herbert«, sagte sie schließlich bedächtig, »ich weiß nicht, ob Sie mich für eine Närrin oder nur für ein Kind halten. Ich weiß, dass kein vernünftiges menschliches Wesen das als wahr akzeptieren kann. Ich weiß, dass ich Seven Oaks mit Ihnen im Auto verlassen habe; ich weiß, dass Sie der Mann sind, der das Goldservice gestohlen hat; ich weiß, wie sie die Kugel in Ihrer rechten Schulter erhalten haben; ich weiß, wie Sie nachher auf Grund des Blutverlustes ohnmächtig geworden sind. Ich weiß, wie ich Ihre Wunde verbunden habe und – und – ich weiß eine ganze Menge weiterer Dinge!«

Die plötzliche Flut von Worten ließ sie für einen Augenblick atemlos innehalten. Dick hörte in Ruhe zu. Er setzte an, etwas zu sagen – zu protestieren – aber sie nahm einen neuen Anlauf und setzte fort:

»Ich erkannte dich in dieser dummen Verkleidung an der Furche in deinem Kinn. Ich sprach dich mit Dick an, und du hast mir geantwortet. Ich fragte dich, ob du die kleine Schatulle erhalten hast und du hast mit ›Ja‹ geantwortet. Ich verließ den Ballsaal, wie du mich angewiesen hast und bin in das Automobil geklettert. Ich weiß von der schrecklichen Fahrt, die wir wir hatten, und wie ich das Goldservice in dem Beutel nahm und durch die Nacht wanderte – wanderte, bis ich völlig erschöpft war. Ich weiß das alles – wie ich schwindelte und log und lächerliche Geschichten erzählte – aber ich tat das alles, um dich vor dir selbst zu retten, und nun wagst du es, mir mit diesen Lügen gegenüberzutreten!«

Plötzlich brach Dollie in Tränen aus. Dick versuchte nun kein weiteres Leugnen mehr. Da war kein Zorn in seinem Gesicht erkennbar – nur ein tief beunruhigter Ausdruck. Er stand auf und ging hinüber zum Fenster, wo er stehenblieb, um hinauszustarren.

»Ich weiß das alles«, wiederholte Dollie schluchzend – »alles, nur nicht, warum du überhaupt auf die Idee gekommen bist, dieses gräßliche, dumme alte Geschirr zu stehlen!« Dann kam eine Pause und Dollie schielte durch tränenfeuchte Finger. »Wie – wie lange«, fragte sie, »bist du schon ein – ein – ein Kleptomane?«

   
»Dummer, dummer Junge«, sagte sie
Dick zuckte ein wenig ungeduldig mit seinen kräftigen Schultern.

»Hat dir dein Vater jemals erzählt, warum er dagegen ist, dass ich dir den Hof mache?« fragte er.

»Nein, aber ich weiß es jetzt«. Und es folgte ein neuer Ausbruch von Tränen. »Weil – weil du ein – ein – weil du Dinge nimmst.«

»Du glaubst also nicht, was ich dir erzähle?«

»Wie kann ich denn, wenn ich dir dabei geholfen habe, mit diesem schrecklichen Zeug zu flüchten?«

»Und wenn ich dir mein Ehrenwort gebe, dass ich dir die Wahrheit erzählt habe?«

»Ich kann es nicht glauben! Ich kann nicht«, jammerte Dollie verzweifelt. »Niemand kann es glauben. Ich hätte nie geahnt – nie geträumt –, dass so etwas möglich wäre, selbst als du verwundet draußen in dem dunklen Wald lagst. Wenn ich das hätte, hätte ich dich sicher niemals – niemals – geküsst.«

Dick drehte sich plötzlich um.

»Mich geküsst?« rief er aus.

»Ja, du schrecklicher Kerl!«, schluchzte Dollie. »Wenn ich vorher auch nur den leisesten Zweifel an deiner Identität gehabt hätte, hätte mich das davon überzeugt, dass es du warst, weil – weil – eben weil! Und außerdem hättest du es mir sagen müssen, wenn nicht du es gewesen bist, den ich küsste!«

Dollie lehnte sich mit dem hinter ihren Händen verborgenen Gesicht plötzlich nach vorn auf die Lehne des Sessels. Dick bewegte sich leise durch das Zimmer auf sie zu und legte einen Arm zärtlich um ihre Schultern. Sie schüttelte ihn zornig ab.

»Wie können Sie es wagen, Sir?«, loderte sie.

»Dollie, liebst du mich nicht?«, flehte er.

»Nein!«, war die prompte Antwort.

»Aber du hast mich geliebt – einmal?«

»Warum – ja, aber ich – ich –«

»Und könntest du mich nicht jemals wieder lieben?«

»Ich – ich will es niemals wieder.«

»Aber könntest du es nicht?«

»Wenn du mir nur die Wahrheit gesagt hättest, anstatt solch dumme Lügen zu erzählen«, schluchzte sie. »Ich weiß nicht, warum du das Goldservice genommen hast, es sei denn – es sei denn, weil du – du nichts dafür konntest. Aber du hast mir nicht die Wahrheit erzählt.«

Dick starrte einen Augenblick verdrossen auf den rotfarbenen Kopf hinunter. Dann änderte sich sein Verhalten und er fiel neben ihr auf die Knie.

»Stell dir vor«, flüsterte er, »stell dir vor, ich würde zugeben, dass ich es genommen habe?«

Dollie sah mit neuem Schrecken in ihrem Gesicht jäh auf.

»Oh, du hast es also getan?«, rief sie aus. Das war schlimmer als vorher!

»Stell dir vor, ich würde zugeben, dass ich es getan habe?«

»Oh, Dick!«, schluchzte sie. Und ihre Arme schlossen sich plötzlich um seinen Nacken. »Du brichst mir das Herz. Warum? Warum?«

»Wärst du dann zufrieden?«, drängte er sie.

»Was kann dich nur veranlasst haben, so etwas zu tun?«

Das Licht der Liebe schimmerte wieder in ihren blauen Augen; die roten Lippen zitterten.

»Nimm an, dass es sich nur um einen Laune von mir gehandelt hätte, und ich beabsichtigt hätte, das Zeug zurück – zurückzugeben, wie es ja auch geschehen ist?«, fuhr er fort.

Dollie schaute tief in die Augen, die zu den ihren aufsahen.

»Du dummer Junge«, sagte sie. Dann küsste sie ihn. »Aber du darfst das niemals, niemals wieder tun.«

»Ich werde es nie wieder tun«, versprach er hoch und heilig.

Als Dick fünf Minuten das Haus verlassen wollte, traf er Mr. Meredith in der Halle an.

»Ich werde Ihre Tochter heiraten«, sagte er völlig ruhig.

Mr. Meredith brüllte ihn immer noch an, als er schon die Stufen hinabschritt.

 

 

(Fortsetzung folgt)